Oberlandesgericht Hamm entscheidet über die Wirksamkeit eines Behindertentestaments
Vererben vermögende Eltern ihrem behinderten Kind einen Erbteil durch ein sogenanntes Behindertentestament und ist das Kind trotz des Erbes auch weiterhin auf Sozialhilfeleistungen angewiesen, ist das Testament nicht schon deshalb sittenwidrig oder nichtig. Zu diesem Ergebnis kommt der 10. Zivilsenat des Oberlandesgerichts (OLG) Hamm in seinem Urteil vom 27. Oktober 2016 – Az. 10 U 13/16. Damit hat das OLG Hamm das erstinstanzliche Urteil des Landgerichts (LG) Essen bestätigt und die höchstrichterliche Rechtsprechung, nämlich das Urteil des BGH vom 20. Oktober 1993 – Az. IV ZR 231/92 – fortgeführt.
Dem Urteil liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Ein vermögendes Ehepaar hatte drei Kinder, von denen ein Sohn aufgrund eines genetisch bedingten Down-Syndroms unter gesetzlicher Betreuung in einem Behindertenwohnheim lebte. Seit 2002 erhielt der Sohn für seinen Lebensunterhalt auch staatliche Leistungen. Ein gemeinschaftliches Testament der Eltern, ein sogenanntes Behindertentestament, hatte zum Ziel, dass dem behinderten Sohn mit Eintritt des Erbfalls nur so viele Mittel zur Verfügung gestellt werden, dass ihm andere Zuwendungen, insbesondere staatliche Leistungen, nicht verloren gehen. Der von einem Testamentsvollstrecker verwaltete Erbteil sollte dazu dienen, persönliche Interessen und Bedürfnisse des Sohnes zu finanzieren.
Nach dem Tod der Mutter erhielt der behinderte Sohn einen Erbteil in Höhe von 960.000 Euro. Daraufhin reichte der Sozialhilfeträger Klage beim LG Essen gegen den überlebenden Vater und die beiden Geschwister ein. Als Begründung führte der Sozialhilfeträger an, dass der behinderte Sohn ohne die durch das Behindertentestament gemachten Beschränkungen pflichtteilsberechtigt sei. Das im Jahr 2000 erstellte Testament sei insoweit sittenwidrig und deshalb unwirksam. Aufgrund der Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsansprüche stünde dem Sohn ein Betrag in Höhe von 930.000 Euro zu. Dieser reiche aus, um die Kosten für die Sozialhilfe bis zum Lebensende zu bezahlen.
OLG Hamm bestätigt die Wirksamkeit des Behindertentestaments
Das LG Essen hat das Testament als rechtlich wirksam angesehen. Auch das OLG Hamm ist dieser Auffassung gefolgt und hat bestätigt, dass das Behindertentestament wirksam ist. In Anlehnung an die Rechtsprechung des BGH (Bundesgerichtshof) führte das OLG Hamm an, dass ein Erblasser im Rahmen der Testierfreiheit ein behindertes Kind in Bezug auf die Erbfolge benachteiligen könne, die allerdings durch das gesetzliche Pflichtteilsrecht begrenzt werde. Da der dem behinderten Sohn zugedachte Erbteil jedoch über dem gesetzlichen Pflichtteilsanspruch liege, genüge das in Frage stehende Testament dem Pflichtteilsrecht. Das Behindertentestament sei aufgrund der Anordnung der Testamentsvollstreckung durch die Eltern nicht sittenwidrig. Damit hätten die Eltern sicherstellen wollen, dass dem behinderten Sohn der Erbteil dauerhaft erhalten bleibe. Mit ihm sollten die Therapien und Annehmlichkeiten finanziert werden, für die der Sozialhilfeträger nicht oder nur zum Teil aufkommen würde. Insoweit sei die mit dieser Maßgabe angeordnete Testamentsvollstreckung keine sittenwidrige Zielsetzung.
Als ebenfalls nicht sittenwidrig hat das OLG Hamm die Anordnung der Vor- und Nacherbfolge im Testament angesehen, durch die der Sozialhilfeträger selbst nach dem Tod des behinderten Sohnes nicht auf ein mögliches noch verbleibendes Erbe zurückgreifen kann. Gesetzliche Vorschriften, die Eltern dazu verpflichten, einem behinderten Kind einen Erbteil zu hinterlassen, der über den Pflichtteil hinausgeht, um die Allgemeinheit zu entlasten, seien im Sozialhilferecht nicht enthalten. Außerdem sei zu berücksichtigen, dass der behinderte Sohn seinen durch die Testamentsvollstreckung und die Nacherbfolge beschränkten Erbteil ohne weiteres durch Ausschlagen des Erbes hätte erhalten können. Auch hier gibt es keine rechtliche Vorschrift, die die Verpflichtung erhält, ein Erbe zugunsten eines Sozialhilfeträgers auszuschlagen.